IVDR Anhang I, Allgemeine Sicherheits- und Leistungsanforderungen. Neue Anforderungen für klinische Labore, die mit laborentwickelten Tests arbeiten
B. Ezzouaouy | Senior Product Manager | Beckman Coulter Life Sciences
THEMENÜBERBLICK
- Bedeutung des Anhangs I, „Allgemeine Sicherheits- und Leistungsanforderungen“, für klinische Labore, die laborentwickelte Durchflusszytometrie- Tests durchführen, im Kontext der neuen EU‑Verordnung 2017/746 über In‑vitro-Diagnostika (IVDR)
- Anforderungen gemäß Anhang I der IVDR
- Folgen dieser Anforderungen für klinische Labore
Einleitung
Die neue europäische Verordnung 2017/746 über In‑vitro-Diagnostika (IVDR) ersetzt die Richtlinie 98/79/EG über In‑vitro-Diagnostika (IVDD), durch die seit ihrer Veröffentlichung im Jahr 1993 IVD-Produkte reguliert wurden. Die IVDR ist im Mai 2017 in Kraft getreten. Im Oktober 2021 veröffentlichte die EU-Kommission neue Übergangsbestimmungen für einige der IVDR-Fristen. Gegenüber der IVDD legt die IVDR die Messlatte für IVD-Hersteller erheblich höher, unter anderem mit zusätzlichen Anforderungen wie der Mitwirkung von Benannten Stellen, der Umsetzung proaktiver Prozesse für die Überwachung nach dem Inverkehrbringen und schärferen Anforderungen an den Nachweis von Leistung und klinischer Evidenz.
Die IVDR legt die Messlatte nicht nur für Hersteller höher, sondern für die gesamte IVD-Landschaft einschließlich klinischer Labore, die von der IVDD nicht betroffen waren, aber in den Geltungsbereich der IVDR fallen. Klinische Labore müssen tatsächlich im Hinblick auf IVD-Assays, die sie im eigenen Haus entwickeln/herstellen, d. h. sogenannte laborentwickelte Tests (LDTs), IVDR-konform sein. Die IVDR erkennt zwar an, dass zur Diagnose bestimmter Erkrankungen LDTs benötigt werden, weil es nicht für alle Krankheiten handelsübliche Assays mit CE-Kennzeichnung gibt, sieht aber gleichzeitig das Risiko, das zu wenig kontrollierte Hochrisiko-LDTs bergen. Das Ziel der IVDR, die Qualität, Sicherheit und Zuverlässigkeit von IVD-Produkten noch weiter zu verbessern, wäre nicht erreicht worden, wenn man die Anforderungen nur für Hersteller verschärft hätte, während einzelne Labore weiter die Flexibilität gehabt hätten, ihre eigenen „selbstgebrauten“ Assays unter deutlich weniger Anforderungen zu entwickeln.
Die IVDR sieht für LDTs eine teilweise Ausnahme von den Anforderungen der Verordnung vor, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Labore die in Artikel 5 (5) genannten Bedingungen erfüllen.
Tabelle 1: Anforderungen des Artikels 5 (5) der IVDR
LDTs, die diese Bedingungen erfüllen, müssen nur dem Anhang I, „Allgemeine Sicherheits- und Leistungsanforderungen“ (General Safety and Performance Requirements, GSPR), entsprechen. Somit bilden die in Anhang I der IVDR aufgeführten GSPR zusammen mit den Anforderungen des Artikels 5 (5) die tragende Säule für die IVDR-Konformität von Laboren in Bezug auf ihre laborentwickelten Tests. Die Einhaltung der GSPR ist alles andere als einfach, und jedes Labor, das nach dem Mai 2022 LDTs durchführen will, sollte die GSPR eingehend prüfen und die Umsetzung mit großzügig bemessenem Vorlauf planen, um sicherzustellen, dass es zum Stichtag vorbereitet ist. Es ist zu beachten, dass die IVDR keinen Bestandsschutz für LDT vorsieht. Selbst LDTs, die schon seit Jahren in Gebrauch sind, müssen die Bedingungen des Artikels 5 (5) und des Anhangs I erfüllen, wenn sie auch nach dem Mai 2024 noch eingesetzt werden sollen.
Überblick über Anhang I, Allgemeine Sicherheits- und Leistungsanforderungen
Damit sie gemäß den IVDR-Anforderungen als zur Verwendung akzeptabel gelten können, müssen IVD-Produkte, einschließlich LDTs, sicher sein und ihre Zweckbestimmung im Hinblick auf die Leistungsanforderungen erfüllen. In Anhang I der IVDR sind 20 allgemeine Sicherheits- und Leistungsanforderungen für In‑vitro-Diagnostika aufgeführt. Sie bilden die Basis der Verordnung. IVD-Hersteller – und klinische Labore, die LDTs durchführen – müssen die Einhaltung dieser GSPR durch Verweis auf harmonisierte Normen oder interne Anweisungen nachweisen. Die GSPR gliedert sich in drei Kapitel:
- Kapitel I – Allgemeine Anforderungen
- Kapitel II – Anforderungen an Leistung, Auslegung und Herstellung
- Kapitel III – Anforderungen an die mit dem Produkt gelieferten Informationen
Das vorliegende Dokument gibt einen zusammenfassenden Überblick über die GSPR in diesen drei Kapiteln.
Kapitel I – Allgemeine Anforderungen
In diesem Kapitel geht es hauptsächlich um Risikomanagement und das Nutzen-Risiko-Verhältnis. Für IVD-Hersteller stellt dies zwar bereits einen Schwerpunktbereich dar, in dem sie sich gut auskennen, die meisten klinischen Labore dagegen haben weniger Erfahrung mit solchen Anforderungen und müssen deshalb ihre Kenntnisse vertiefen und neue Prozesse etablieren. Kapitel I enthält 8 GSPR, die für alle IVD gelten:
- Eignung der Produkte für ihre Zweckbestimmung, ohne die Gesundheit und Sicherheit der Anwender oder gegebenenfalls Dritter zu gefährden
- Identifikation und möglichst weitgehende Verringerung der Risiken im Zusammenhang mit der Verwendung des Produkts, so weit wie ohne negative Auswirkungen auf das Nutzen-Risiko-Verhältnis möglich
- Festlegung, Umsetzung und Dokumentation eines Risikomanagementsystems, das während des gesamten Lebenszyklus des Produkts regelmäßig aktualisiert wird
- Für die Auslegung und Herstellung der Produkte getroffene Maßnahmen zur Risikokontrolle mit dem Ziel, sowohl das Gesamtrestrisiko als auch das mit jeder einzelnen Gefährdung verbundene Restrisiko zu senken. Die Hersteller unterrichten die Anwender über etwaige Restrisiken.
- Vorgehensweise zum Ausschluss oder zur Verringerung von durch Anwendungsfehler bedingten Risiken
- Sicherstellung, dass die Merkmale und die Leistung des Produkts unter normalen Verwendungsbedingungen und bei ordnungsgemäßer Instandhaltung nicht beeinträchtigt werden
- Auslegung, Herstellung und Verpackung der Produkte, um sicherzustellen, dass sie während des Transports und der Lagerung nicht beeinträchtigt werden
- Überlegungen zum Nutzen im Vergleich zu den Risiken des Produkts
Kapitel II – Anforderungen an Leistung, Auslegung und Herstellung
Im zweiten Kapitel werden die Anforderungen aufgelistet, mit denen klinische Labore wahrscheinlich am besten vertraut sind – vor allem solche, die über robuste Assay-Validierungsprozesse verfügen, beispielsweise nach ISO 15189 akkreditierte Labore. Das Kapitel legt elf Anforderungen in folgenden Bereichen fest:
- Leistungsmerkmale, unter anderem Analyseleistung (wie analytische Sensitivität, Spezifität, Wiederholbarkeit,
Reproduzierbarkeit, Richtigkeit/Verzerrung, Genauigkeit, Linearität, Nachweis- und Quantifizierungsgrenzen etc.)
und klinische Leistung (wie diagnostische Sensitivität, Spezifität, erwartete Werte, positiver prädiktiver Wert und
negativer prädiktiver Wert etc.) - Chemische, physikalische und biologische Eigenschaften
- Infektion und mikrobielle Kontamination
- Besondere Anforderungen an Produkte, zu deren Bestandteilen Materialien biologischen Ursprungs gehören
- Herstellung und Wechselwirkungen mit der Umgebung, einschließlich Anforderungen an Produkte, die zur Verwendung in Kombination mit anderen Produkten bestimmt sind (z. B. konjugierte Antikörper, die in Panels für die Durchflusszytometrie-Analyse gemischt werden)
- Besondere Anforderungen an Produkte mit Messfunktion
- Schutz vor Strahlung
- Besondere Anforderungen an Produkte, zu deren Bestandteilen programmierbare Elektroniksysteme gehören, und Produkte in Form einer Software. Diese Anforderungen könnten auch für Labore gelten, die eigenentwickelte Algorithmen für die Datenanalyse verwenden oder die Software verwenden, die nicht vom Hersteller zur Verwendung mit dem LDT validiert wurde.
- Besondere Anforderungen an mit einer Energiequelle verbundene oder ausgerüstete Produkte
- Schutz vor mechanischen und thermischen Risiken
- Schutz vor den Risiken durch Produkte, die für die Eigenanwendung oder patientennahe Tests bestimmt sind
Kapitel III – Anforderungen an die mit dem Produkt gelieferten Informationen
Das dritte und letzte Kapitel des Anhangs I der IVDR konzentriert sich auf die Kennzeichnung und Gebrauchsanweisung und enthält nur eine einzige, in vier Teile gegliederte GSPR:
- Kennzeichnung und Gebrauchsanweisung:
1.1. Allgemeine Anforderungen an die vom Hersteller gelieferten Informationen, unter anderem Informationen im Zusammenhang mit der Kennzeichnung, der Gebrauchsanweisung und der Mitteilung von Restrisiken
1.2. Angaben auf der Kennzeichnung: eine umfassende Liste von Angaben, welche die Kennzeichnung enthalten muss, unterteilt in 20 verschiedene Unterpunkte
1.3. Angaben auf der Verpackung von sterilen Produkten
1.4. Angaben in der Gebrauchsanweisung (34 Unterpunkte)
Jedes Labor, das LDTs durchführt, ist dafür verantwortlich, alle GSPR zu bestimmen, die für seine LDTs relevant sind, und zu begründen, warum manche Anforderungen nicht zutreffen. Das Qualitätsmanagementsystem (QMS) des Labors muss ausreichend sicherstellen, dass der Nachweis über die Unterstützung der einzelnen GSPR wie erforderlich aktualisiert wird, beispielsweise bei einer Auslegungsänderung (z. B. Aufnahme eines neuen konjugierten Antikörpers in ein Panel, Formulierungsänderung) oder nach Beobachtungen aus der Überwachung nach dem Inverkehrbringen oder Änderungen bei Normen oder der aktuellen Experteneinschätzung. Während die anfängliche Umsetzung und Einhaltung der IVDR-GSPR bei klinischen Laboren, die LDTs durchführen, schon viel Zeit und Ressourcen erfordern wird, wird auch der Aufrechterhaltungsaufwand erheblich sein und sollte nicht unterschätzt werden.
Diskussion
Die IVDR macht es für IVD-Produkte, so auch LDTs, zweifellos komplizierter, die Anforderungen zu erfüllen. Der Komplexitätsgrad ist wahrscheinlich mit dem der FDA-Anforderungen an IVD in den USA vergleichbar. Die Einhaltung der IVDR wird IVD-Hersteller auf jeden Fall vor eine Herausforderung stellen, und kleinste Unternehmen werden zwar möglicherweise nicht über die entsprechenden Ressourcen und Fähigkeiten verfügen, um ihr QMS aufzurüsten, doch die meisten Hersteller dürften über das Know-how verfügen, um diese Anforderungen zu erfüllen, auch wenn dies einen erheblichen Zusatzaufwand verursacht. Andererseits besteht die Kernkompetenz von klinischen Laboren darin, diagnostische Befunde, und keine diagnostischen Tests, zu produzieren, und den meisten werden die Kenntnisse und Ressourcen fehlen, um Konformität mit der gesamten IVDR zu erreichen. Der Artikel 5 (5) bietet eine Alternative, wenn die dortigen Anforderungen erfüllt werden, doch auch diese sind mit erheblichem Aufwand verbunden, und die Erfüllung der allgemeinen Sicherheits- und Leistungsanforderungen gemäß Anhang I der IVDR wird eine hohe Hürde darstellen. Angesichts des zusätzlichen Aufwands für die Umsetzung und Aufrechterhaltung des erforderlichen QMS wird dies dazu führen, dass auf den Einsatz von LDTs verzichtet wird, wenn es nicht absolut notwendig ist. Die Nutzung von LDTs wird auch deshalb signifikant zurückgehen, weil die IVDR ihre Verwendung auf Tests beschränkt, die für Patientenzielgruppen mit spezifischen Erfordernissen vorgesehen sind, die durch ein gleichartiges auf dem Markt verfügbares Produkt nicht auf dem angezeigten Leistungsniveau erfüllt werden können, wie in Artikel 5 (5) d) der IVDR ausgeführt ist.
Dies markiert eine tiefgreifende Umwälzung für die meisten klinischen Labore, da LDTs vor allem in IVD-Fachgebieten wie der Durchflusszytometrie oft eine wichtige Rolle spielen. So ergab etwa eine Fallstudie, die kürzlich von einem klinischen Labor in Belgien veröffentlicht wurde1, dass bislang lediglich 41,8 % der Labortests der Einrichtung CE‑IVDTests waren, und es für 71,5 % der 537 genutzten LDTs keine Alternative auf dem Markt gab. Diese Labore werden erhebliche Zeit und Arbeit in die IVDR-Konformität investieren müssen. Zusätzlich zur Anfangsinvestition an Zeit und Ressourcen für die Aufrüstung des QMS müssen Labore vorausplanen, um sicherzustellen, dass sie über die Fähigkeiten zur Aufrechterhaltung der Konformität verfügen, denn sämtliche Dokumente und Prozesse müssen über den gesamten Lebenszyklus des Produkts hinweg immer wieder aktualisiert werden. Darüber hinaus ist auch nicht hilfreich, dass zu wenig Informationen und Umsetzungshinweise verfügbar sind und die den LDTs gewidmeten Abschnitte der IVDR recht mager ausfallen.
Die IVDR ist zwar bereits im Mai 2017 in Kraft getreten, viele klinische Labore scheinen sich jedoch der Folgen für ihre Arbeit nicht bewusst zu sein, oder es mangelt ihnen an Klarheit und Handreichungen dazu, wie sie ihr QMS an die neuen Anforderungen anpassen sollen. Dies gibt Anlass zur Sorge, denn die IVDR-Konformität ist eine dauerhafte Aufgabe, die eine umfangreiche Planung im Vorfeld erfordert, und das Ende der Übergangsfrist nähert sich rasch. Die IVD-Branche, vertreten durch MedTech, glaubt zudem, dass einige wichtige Elemente fehlen, um die Umsetzung der IVD-Verordnung praktikabel zu machen, und hat Einwände bei den EU-Behörden vorgebracht.2 Zudem werden LDTs häufig genutzt, um Arbeitsabläufe zu verbessern oder Kosten zu senken, was gemäß IVDR keine zulässigen Gründe dafür sind, auf den Einsatz einer handelsüblichen Lösung mit CE-Kennzeichnung zu verzichten.
Während die Umstellung von der IVDD auf die IVDR eine Mammutaufgabe für die IVD-Landschaft bedeutet, wird sie letztlich dazu führen, dass in der Diagnostik IVD-Produkte von höherer Qualität zum Einsatz kommen, seien es Handelsprodukte oder LDTs, und die Risiken für die Patienten erheblich sinken.
Quellen
- The new IVD Regulation 2017/746: a case study at a large university hospital laboratory in Belgium demonstrates the need for clarification on the degrees of freedom laboratories have to use lab developed tests to improve patient care. Vermeersch et al. Clin Chem Lab Med July 2020
- MedTech Europe urges EU authorities to make IVD Regulation implementation workable. July 2020. Press release. https://www.medtecheurope.org/news-and-events/press/medtech-europe-urges-eu-authorities-to-make-ivd-regulation-implementation-workable/